"Von furchtbaren Richtern ist in unseren Tagen viel die Rede. Von einem furchtlosen Richter handelt dieses Buch."

So beginnt das Geleitwort zu einer 1996 erschienenen Neuauflage der Lebenserinnerungen des Richters und Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung Jodokus Temme.

An die wohl bedeutendste Richterpersönlichkeit, die die heimische Region hervorgebracht hat, erinnern in Rheda-Wiedenbrück die Jodokus-Temme-Straße und in Herzebrock-Clarholz der Jodokus-Temme-Ring. Seit 1956 gibt es auch im Stadtteil Spandau der Bundeshauptstadt Berlin einen Temmeweg.

In seinem Geburtsort Lette, heute Stadtteil von Oelde, wurde in der nach ihm benannten Straße anlässlich seines 100. Todestags ein Findling aufgestellt mit der Inschrift: "Jodokus Temme, Vorkämpfer für Freiheit und Recht."

Das erwähnte Geleitwort würdigt sein Wirken und seine heutige Bedeutung:
"Die Erinnerung an ihn bedeutet die Wiederbelebung eines Stückes deutscher Demokratiegeschichte, eine Wiederbegegnung mit einem wichtigen Vorkämpfer unserer heutigen Gesellschaftsordnung mit ihrem Grundsatz des gleichen Rechts für alle. Die Pflege der demokratischen Tradition und das Andenken an ihre hervorragenden Vertreter sind dazu angetan, den Demokratiegedanken zu vertiefen und zu stärken."

Jodokus Donatus Hubertus Temme wurde am 22.10.1798 in Lette geboren. Als er ca. sechs Monate alt war, nahmen die Eltern Wohnung in Wiedenbrück, nachdem sein Vater dort zum Stadtrichter gewählt worden war.

Seine frommen Vornamen erhielt er von seinem Taufpaten, dem letzten Propst des Norbertiner-Klosters (Prämonstratenser) in Clarholz Jodokus van Oldeneel.

Jodokus ist der Schutzheilige der Schiffer, die Schutzheiligen Donatus und Hubertus sollen vor Hieb und Stich bzw. gegen den Schuss schützen.

Sein Pate unterstützte ihn während des Studiums mit regelmäßigen Geldzuwendungen, enterbte ihn jedoch zu Temmes Bedauern "um seines Seelenheils willen", weil dieser später eine Protestantin heiratete.

Jodokus Temme entstammt einer alten westfälischen Juristenfamilie. Sein Großvater Johann Carl Heinrich (1738 – 1796) war ebenso Gograf (Gaurichter) zum Harkotten (Warendorf) gewesen wie zuvor sein Urgroßvater Carl Bernard Joseph.

Sein Vater Carl Bernhard Joseph Temme (1765 – 1841) übte zunächst eine Tätigkeit als Advokat in Münster aus und wurde dann Stiftsamtmann des Clarholzer Klosters. Zusätzlich übernahm er ab 1798 das Amt eines gewählten Stadtrichters in Wiedenbrück. Nach der Auflösung des Klosters in Clarholz 1803 im Rahmen der Säkularisation übernahm er zusätzlich zum Richteramt das Justitiariat bei der Fürstlichen Domänenkanzlei Rheda. Von 1804 – 1814 war er Friedensrichter in Wiedenbrück und von 1815 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1829 als Assessor zweiter Richter am Land- und Stadtgericht Wiedenbrück.

Jodokus Temme erhielt Erziehung und Ausbildung durch seinen Vater und einen Onkel, bei dem es sich vermutlich um Anton Heinrich Temme handelte, den Pfarrer von St. Vit bzw. später von Herzebrock.

Im September 1814 trat er in die Oberprima des Gymnasiums Theodorianum zu Paderborn ein und studierte anschließend bis 1817 in Münster und Göttingen Jura. Im Oktober 1817 bestand er das sog. Auskultator-Examen und war Referendar am OLG Paderborn und Hilfsrichter in Rheda.

1821 wurde er Assessor am Fürstlich Bentheimschen standesherrlichen Gericht (Land- und Stadtgericht) in Hohenlimburg an der Lenne und begleitete dann den Prinzen Franz von Bentheim zum Jurastudium nach Heidelberg, Bonn und Marburg.

1824 nahm er die Tätigkeit als Assessor in Hohenlimburg wieder auf.

1827 heiratete er die evangelische Julie Plücker (oder Pückler) aus Elberfeld.

1832 folgte das Große Staatsexamen in Berlin (erforderlich für eine höhere Richterlaufbahn), anschließend war Temme bis 1833 als Assessor am Hofgericht in Arnsberg tätig.

1833 wurde er zum Kreisjustizrat ernannt und nach Ostpreußen versetzt. In Ragnit an der Memel unterstand ihm die Gerichtsbarkeit in vier Grenzkreisen. Nach seinen Lebenserinnerungen hatte er im russisch/polnischen Grenzbereich beruflich überwiegend mit Schmuggel und Pferdediebstahl zu tun.

Nach kurzer Tätigkeit als Direktor des Inquisitoriats in Stendal wurde er 1838 zum Hofgerichtsrat in Greifswald befördert, von 1839 – 1844 war er zunächst Rat, ab 1842 Zweiter Direktor des neu eingerichteten Kriminalgerichts in Berlin.

Die Beförderung zum Ersten Direktor zerschlug sich wegen "unbotmäßigen Verhaltens" Temmes. Er wurde vom königlichen Hof zunächst – fälschlicherweise – verdächtigt, an einem freisprechenden Urteil des Kriminalgerichts wegen der Veröffentlichung einer politischen Karikatur beteiligt gewesen zu sein.

Temme wandte sich anschließend in der Presse entschieden gegen den Entwurf eines erzkonservativen Ehegesetzes, das der preußische König Friedrich Wilhelm IV. durchsetzen wollte.

Nunmehr endgültig in Ungnade gefallen stimmte er schließlich im Februar 1844 einer Versetzung als Direktor an das Land- und Stadtgericht Tilsit zu. Dort gründete er 1848 den "Politischen Club zur Befestigung des Constitutionellen Königthums", dem zahlreiche Bürger und Beamte angehörten.

Nach den Revolutionen in Paris und Berlin im Februar und März 1848 wurde Temme zum Staatsanwalt beim Kriminalgericht in Berlin ernannt, übte die Tätigkeit aber nur bis Juni 1848 aus. Am 8.5.1848 wurde er von dem Kreis Ragnit zum Mitglied der Preußischen Nationalversammlung gewählt, am 10.5.1848 von seinem Heimatkreis Wiedenbrück zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung (Frankfurter Paulskirche).

Im Juli 1848 nahm er nach einigem Widerstreben die Ernennung zum Zweiten Präsidenten und Vorsitzenden des Kriminalsenats des OLG Münster an.

Temme war von dem neuen Geist des Liberalismus überzeugt und trat entschieden für die Schaffung einer konstitutionellen Monarchie ein:
"An der Spitze des Staates steht der König, aber er ist nicht unbeschränkter Herr; er ist in seinen Regentenrechten beschränkt durch die Verfassung als Grundgesetz des Staates. Es muss als erste Wahrheit erkannt werden, dass der König um des Volkes willen und nicht das Volk um des Königs willen da ist."

Temme forderte das Recht der gesamten Gesetzgebung und Steuerbewilligung durch Landtage, Freiheit der Person, der Presse, der Rede und der Assoziation, Gleichheit vor dem Recht ohne Ansehen des Standes und der Religion.

Weil er als einer der Wortführer der Linken in der Preußischen Nationalversammlung den Aufruf zur Steuerverweigerung unterstützt hatte, wurde er am 27.12.1848 unter dem Vorwurf des Hochverrats und des Aufruhrs verhaftet und für ca. einen Monat im Zuchthaus Münster inhaftiert. Die Haft in seinem eigenen Gerichtsbezirk wurde als allgemein als besonders demütigend empfunden und erregte landesweites Aufsehen.

Aus der Zuchthaushaft befreite ihn die Wahl zum Abgeordneten des Kreises Neuss in die Frankfurter Paulskirche. Nach seiner Freilassung am 27.1.1849 feierten ihn über 400 seiner Anhänger in Münster mit einem Fackelzug und überreichten ihm einen Ehrenpokal mit der Inschrift: "Dem Volksmanne Jodokus Temme/dem Vorkämpfer für Freiheit und Recht/bei seiner Entlassung aus rechtswidriger Haft/gewidmet von Bürgern der Stadt Münster am 28. Januar 1849" (im Westf. Museum für Kunst und Kulturgeschichte Münster).

Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung bzw. des späteren Stuttgarter "Rumpfparlaments", das am 18.6.1849 durch württembergisches Militär gesprengt wurde, trat er - wie in seiner gesamten politischen Tätigkeit- entschieden für einen streng gesetzeskonformen Kurs ein. In der letzten Sitzung des Stuttgarter "Rumpfparlaments" formulierte er: "Meine Herren! Wir sind in einer öffentlichen Sitzung, in einem solchen Augenblick halte ich es für nötig, dass wir vor allem den gesetzlichen Boden festhalten."

Von dieser Haltung wich er nur einmal in einem Brief vom 16.3.1949 an den führenden preußischen Demokraten Waldeck ab, in dem er für das Recht auf Revolution plädierte für den Fall, dass Friedrich Wilhelm IV. die ihm angebotene Kaiserwürde nicht annehme.

Dieser Brief, den Temme später als "herzlich dumm, hervorgegangen aus einer argen politischen Verblendung" bezeichnete, wurde zum ausschlaggebenden Beweismaterial in den nun gegen ihn wegen seiner politischen Einstellung mit haltlosen Anklagepunkten geführten Verfahren. Temme wurde zwar nach erneuter Inhaftierung am 6.4.1850 von dem Schwurgericht Münster wegen der strafrechtlichen Vorwürfe letztlich freigesprochen, in dem folgenden Disziplinarverfahren vor dem Obertribunal in Berlin jedoch im Alter von 51 Jahren nach 33 Dienstjahren ohne jeden Pensionsanspruch aus dem Richteramt entlassen. Die Pension des mehrfachen Familienvaters hätte jährlich ca. 1000 Taler betragen; selbst seine eigenen Beiträge zur Altersversorgung wurden nicht erstattet).

In diese Zeit der Verfolgung und erneutigen Haft im Zuchthaus Münster fiel ein bemerkenswerter Vorgang. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Tilsit im fernen preußischen Osten ernannte ihn einstimmig zum Ehrenbürger der Stadt.

Temme beklagt in seinen Erinnerungen, dass wegen seiner Verfolgung und Ächtung durch die preußische Regierung, kaum jemand wagte, sich mit ihm einzulassen: "Kein Rechtsanwalt durfte mir Beschäftigung geben; kein Kaufmann hatte den Mut, meinen juristischen Rat in Anspruch zu nehmen; kein Buchhändler nahm etwas von mir in Verlag."

Das Angebot des Königs , ihn um eine Rechtsanwaltsstelle in Berlin zu bitten, lehnte Temme aus Stolz ab.

Von April 1851 – September 1852 wurde er auf Bitte eines befreundeten Verlegers Chefredakteur der demokratischen "Neuen Oderzeitung" in Breslau, emigrierte jedoch schließlich wegen der weiter anhaltenden Verfolgungen nach Zürich. Die "Neue Oderzeitung" war zuvor von den Behörden vielfach beschlagnahmt und in ständige Presseprozesse verwickelt worden. Der Versuch einer Berufstätigkeit als "Rechtskonsulent" mit der Abfassung von Rechtsgutachten wurde zwar von mutigen – fast ausschließlich jüdischen - Bürgern der Stadt Breslau unterstützt, scheiterte jedoch an weiteren Verfolgungsmaßnahmen. Die preußischen Behörden beriefen sich darauf, dass Temme für seine Tätigkeit der juristischen Gutachtenerstattung keine Erlaubnis nach § 49 der Preußischen Gewerbeordnung eingeholt habe, wie sie nach dem Gesetzestext u.a. für eine Tätigkeit als Kammerjäger, Altkleiderhändler, Lohnlakai, Pfandleiher usw. vorgeschrieben war.

Als Emigrant in der Schweiz, die nach ihrer Verfassung keine politischen Flüchtlinge an Preußen auslieferte, versuchte Temme "aus Not um das tägliche Brot" als "Tagelöhner der Feder" (belletristischer Schriftsteller) und zunächst unbesoldeter Professor an der Staatswissenschaftlichen Fakultät Zürich seine Familie mit noch sechs zu versorgenden Kindern im Alter von 19 – 5 Jahren durchzubringen.

Unter dem Pseudonym "Heinrich Stahl" hatte er bereits in seiner Arnsberger Assessorenzeit Novellen und Romane veröffentlicht. Romane zu schreiben hielt nach Temmes Schilderung der preußische Beamtendünkel nicht für vereinbar mit der Beamten- und insbesondere der Richterwürde, so dass er den Namen eines verstorbenen Studienfreundes benutzte.

1831 erschien unter diesem Pseudonym die älteste Sagensammlung Westfalens (Westfälische Sagen und Geschichten).

Es folgten 1837 die "Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens", 1839 die "Volkssagen der Altmark" und 1840 die "Volkssagen von Pommern und Rügen".

Temme verfasste auch zahlreiche juristische Schriften und Lehrbücher, von denen nur einige aufgeführt werden sollen:
"Handbuch des Preußischen Kriminalrechts" 1837
"Critik des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten" 1843,
"Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte" 1841,
"Lehrbuch des Preußischen Strafrechts" 1853,
"Die Lehre von der Tödtung nach preußischem Rechte" 1839
"Lehrbuch des Preußischen Civilrechts" 1846
"Das preußische Vormundschaftsrecht" 1847
"Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts nach den Strafgesetzbüchern der Schweiz" 1855

Während der zweiten Zuchthaushaft in Münster nahm er seine schriftstellerische Tätigkeit erneut auf und schrieb die heute vergessenen Romane "Anna Hammer", "Josephe Münsterberg" und "Elisabeth Neumann", deren Verkauf jedoch alsbald verboten wurde.
In der Schweiz lebend verfasste er von 1859 –1866 Erzählungen und Novellen für das illustrierte Familienblatt "Gartenlaube".

Er wurde allmählich zu einem der beliebtesten deutschen Schriftsteller. Dennoch blieben seine Einkünfte niedrig, da man seine Erzählungen oft ohne Honorar nachdruckte. Seine entsprechenden Strafanträge blieben meist erfolglos.

Aus heutiger Sicht zählt Temme auch zu den Begründern der deutschen Kriminalliteratur.

Er gründete eine "Kriminal-Bibliothek" mit den "Merkwürdigen Criminalprozessen aller Nationen". Es erschienen von ihm zahlreiche Kriminalgeschichten (u.a. Dem Mörder auf der Spur" Greifswalder Kriminalgeschichten, "Mord beim Sandkrug", "In der Ballus" Kriminalgeschichte 1874, "Ein tragisches Ende" Kriminalnovellen, "Berliner Polizei- und Criminalgeschichten in humoristischer Färbung").

Seit 1878 lebte er als Ruheständler in Tilsit im Kreis der Familie seiner ältesten Tochter. Nach dem Tode seiner Ehefrau Julie am 10.9.1878 kehrte er 1879 nach Zürich zurück. Am 14.11.1881 verstarb er dort und wurde in Aussersihl (bei Zürich) beigesetzt.     


(Quelle u.a.: J.D.H. Temme "Augenzeugenberichte der Deutschen Revolution 1848/49" - Ein preußischer Richter als Vorkämpfer der Demokratie - Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1996
Bildnachweis: Jodokus Temme, Hüftbild mit Kette, 1849, Radierung, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte)

 

 

Jodokus Temme Quelle: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster
Jodokus-Temme Gedächtnisstein in Lette Jodokus-Temme Gedächtnisstein in Lette
Nahaufnahme vom Jodokus-Temme Gedächtnisstein in Lette Nahaufnahme vom Jodokus-Temme Gedächtnisstein in Lette